Hexe, Ameise, Hut

Die kleine Hexe Ida hatte heute wieder Schule. Es war der erste Tag nach den Ferien und eigentlich hatte sie gar keine Lust auf Schule. Denn das hieß, dass man am Abend früh ins Bett gehen musste, damit man ausgeschlafen war. Und dass man früh aufstehen musste, damit man rechtzeitig zur Schule kam. Und dass man in der Früh keine Zeit mehr hatte, den kleinen Bruder zu ärgern oder ein Bild zu malen oder den Hexenbesen zu bürsten, weil man schnell los musste. Los in die Schule. Und da saß die kleine Hexe nun. Sie saß an ihrem Platz auf ihrem Stuhl an einer großen hölzernen Bank und guckte müde in ihr Hexenbuch. Dort sah sie viele Buchstaben, die in Reih und Glied standen und darauf warteten, von ihr gelesen zu werden. Sie erkannte ein A und ein I, denn das kam in ihrem Namen vor. Und da hinten war ein X. Und dann sah sie noch ein U und ein D. Aber mehr sah sie nicht. Das reichte auch, beschloss sie kurzerhand. Wer muss schon lesen können, wenn man hexen kann!

Es war sehr still im Klassenzimmer. Die Schüler hatten ihre Nasen alle tief in ihre Bücher gesteckt und sagten keinen Pieps. Und der Lehrer lief von Stuhl zu Stuhl und von Bank zu Bank und guckte nach, ob die Nasen auch tief genug in den Büchern steckten. Der kleinen Hexe wurde es allmählich langweilig und sie fing an, die Buchstaben in ihrem Buch zu zählen. Eins, zwei, drei, vier.., zwanzig, dreißig, vierzig. Wie viele Buchstaben doch auf so einer Seite geschrieben stehen! Und dann sah sie auf einmal, wie ein kleines schwarz-rotes Ding über die Seite lief. Flink und geschwind, aber nicht so flink, dass es die kleine Hexe nicht bemerkt hätte. „Ja, wer bist denn Du!“, flüsterte die Hexe und stellte dem schwarz-roten Ding mit ihrem Zeigefinger ein Bein. „Aua!“, beschwerte es sich. Und dann lief es weiter. Wieder zurück in die andere Richtung, quer über die Bücherseite. Und weil die Hexe Lust hatte, es ein bisschen zu ärgern, stellte es ihm nochmal ein Bein. „He, lass mich, ich muss weiter, bin schon spät dran!“, rief das Ding jetzt. „Spät dran?“, fragte die Hexe. „Wo musst Du denn hin?“ „Zu meiner Aufführung! Ich habe gleich eine Aufführung und muss mich beeilen.“ „Aufführung? Was für eine Aufführung?“, fragte die Hexe. „Na drüben in der Aula. Ich bin nämlich ein großer Künstler. Ein Artist. Ein Seiltänzer und ein Akrobat!“, sagte das Ding. „Aha!“, sagte die Hexe. „Dann zeig mal!“ Und das Ding wirbelte hin und her und vor und zurück und auf und nieder. Und dann landete es wieder auf der Bücherseite, direkt auf einem A. Die Hexe musste dabei sehr lachen, weil das so lustig aussah, wie das Ding mit seinen vielen Beinen durch die Luft wirbelte.
„Lachst Du mich aus?“, fragte das Ding enttäuscht. „Nein, ich lache Dich nicht aus“, sagte die Hexe. „Sag mal, wie heißt Du eigentlich?“ „Na, ich heiße Artesimo! Artesimo, die Artisten-Ameise!“, rief das Ding und stellte sich auf seine Hinterfüße, um besonders groß und stolz zu wirken. „Aha!“, sagte die kleine Hexe. „Artesimo also. Und was ist das da?“, fragte die kleine Hexe und deutete auf etwas rotes auf Artesimos Kopf. „Das ist mein Hut. Mein Künstlerhut. Das sieht man doch!“, sagte Artesimo. „Und wozu brauchst Du einen Hut?“, fragte die Hexe. „Na für die Münzen natürlich! Die Münzen, die mir die Leute nach meiner Aufführung in den Hut werfen!“ „Ach so.“, sagte die kleine Hexe. Das mit dem Hut hatte sie schon mal gesehen. In der Straße, wo sie wohnte, da gab es auch einen Mann mit einem Hut. Aber der machte keine Kunststücke, sondern spielte immer auf seiner Flöte. Und wenn er fertig war, ging er mit seinem Hut herum und bat um ein bisschen Kleingeld, das man vielleicht übrig hatte. Die kleine Hexe hatte aber meistens keines übrig.
„Sag mal, kannst Du Flöte spielen?“, fragte die kleine Hexe dann. „Nö.“, sagte die Ameise. „Schade!“, sagte die kleine Hexe. „Ich habe gleich Musikunterricht und da wird immer geflötet. Und ich bin heute mit vorflöten dran. Dabei hab ich gar keine Lust dazu. Ich hab heute sowieso zu überhaupt gar nichts Lust. Ich bin nämlich eigentlich noch sehr müde.“ „Dann komm doch mit zu meiner Aufführung!“, sagte Artesimo. „Das ist immer ein Riesen-Spaß!“ Die kleine Hexe wollte gerade antworten, aber da stand der Lehrer neben ihr und schaute sie sehr streng an. Und dann holte er tief Luft und seine Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Stirn warf große Falten. „Und Du, Ida…“, sagte er dann. „…Du darfst jetzt den Text vorlesen, nachdem Du schon die ganze Zeit am Plappern bist.“ Die kleine Hexe blickte sehr erschrocken und wurde dabei sehr rot im Gesicht. Sie suchte mit zitternden Händen den ersten Buchstaben und begann zu lesen. „Das ist die Geschichte von der schwarzen Ameise mit dem roten Hut, die es gerade sehr eilig hatte, weil sie nicht zu spät zu ihrer Aufführung kommen wollte…“ Und die Hexe las und las und auf ihrer Schulter saß Artesimo und flüsterte leise ein Wort nach dem anderen in ihr Ohr.